Die Architektur hat einen Nachteil, wenn es darum geht, die Menschen zu erreichen: An ihr rührt sich nichts. Die Menschen wollen aber, dass sich etwas rührt. Deshalb lieben sie Fußball und Popmusik.

Als unsere Gebäude noch ursprünglich „schön“ waren, war der Kampf um die Aufmerksamkeit der Menschen deutlich geruhsamer: Es gab kein Fernsehen, keine Farbfotografie, keine Tonträger. Einige der heutigen „Player“ waren also noch nicht am Markt. Heute hat die Architektur den Standpunkt, den sie mit der Papierzeitung, dem Roman, dem Maßanzug und der Füllfeder teilt: Man schätzt ihren Wert, aber nachdem man achtzigmal auf das Smartphone geschaut hat, bleibt die Tageszeitung doch ungelesen am Küchentisch liegen. Wir finden nicht mehr die Zeit dafür.

Meine liebe Großmutter wurde in den 30er Jahren auf einem Aussiedlerhof in bairisch Schwaben groß. Die Zeitungen waren Textwüsten, es gab keine Illustrierten, kein Fernsehen und keine Schallplatten. Wenn es Schallplatten gab, dann nur drei. Im Radio lief Propaganda und das nächste Dorf war eine Stunde zu Fuß entfernt: Dort gab es kein Kino und keinen Bahnhof. Autos fuhren noch nicht und wenn ja, waren die Straßen nicht asphaltiert. Es ist Menschen meiner Generation, die zwei Minuten nach Anreise fragen, wie der W-LAN-Schlüssel lautet, unvorstellbar, mit welchem Grad an Langeweile die Leute damals klarkommen mussten. Eigentlich gab es nur Arbeit und Langeweile. Denn was tat man sonntags? Man ging zur Kirche. Dann besuchte man Onkel und Tanten. Dort sah man sich Fotoalben mit winzigen Schwarzweißbildern an und trank dünnen Getreidekaffee.

Das zwanzigste Jahrhundert hat die Langeweile zur Strecke gebracht. Ihr ist es ähnlich ergangen wie dem Pocken-Virus. Solange wir mobile Daten haben, können wir ständig die Nachrichten lesen, Musik hören, Katzenvideos kucken oder mit Freunden chatten. Das alles konnte meine Oma nicht. Wenn sie einmal in ihre Geburtsstadt München kam, musste also der „Stachus“ oder der „Alte Peter“ mächtig Eindruck auf sie gemacht haben. Einmal nahm sie mich als Buben dorthin mit. Voller Andacht und Neugierde sahen wir uns das Glockenspiel am Neuen Rathaus an. Ein anderes Mal war ich mit ihr und dem Opa auf dem Oktoberfest. Dann führte sie mich zur Bavaria und es war für mich als Junge unfassbar, dass man diese Statue betreten, nach oben hinauf steigen und von dort durch ein Guckloch nach unten blicken konnte.

Viele Architekten haben die Zeichen der Zeit erkannt und ihre Entwürfe knallhart auf das Erzeugen von Aufmerksamkeit ausgerichtet. Sie sind nicht wirklich schön, aber sie sehen so aus, dass der Betrachter so etwas einfach noch nie gesehen hat und zu glotzen beginnt. Wir haben spektakuläre Großformen aber keine Details mehr. Ich kann mich nicht erinnern, neulich einen Entwurf gesehen zu haben, wo man eine Turmuhr vorsah, die alle Stunde schlägt und Musikantenfiguren die Schelle schlagen und sich im Kreise drehen. Das zieht nur bei Menschen, die ohne Kino aufgewachsen sind. Denn die Leute wollen, dass sich etwas rührt.

Insgesamt bestellen wir Architekten ein steiniges Feld. Obwohl der westliche Mensch mindestens sechzehn Stunden täglich in geschlossenen Räumen verbringt, erreicht Architektur das öffentliche Interesse von Brettspielen oder Mathe-Vorlesungen.

Die Medienlandschaft bildet die Aufmerksamkeit ihrer Zielgruppen nur ab. Da fällt die Architektur schnell unter den Tisch:
Das Radio zeigt keine Bilder und von Bauwerken lassen sich keine Originaltonaufnahmen machen. Damit scheidet es als Medium aus. Das Fernsehen bietet der Architektur aber auch nur eine winzige Nische, denn einzelne Gebäude lassen sich zu keinem Massenprodukt wie Ernährungsratgeber oder Ed-Sheeran-Platten machen, die jeder im Laden kaufen kann und soll. Damit fällt auch die Sendezeit in den Kulturmagazinen mau aus. Das führt dazu, dass man als Architekt oder Architektin nichtmal mit Pritzker-Preis ein Ticket in eine Late-Night-Show bekommt, wo sich Schauspieler, Journalisten, DJs, Fotografen, Autoren und Regisseure die Klinke in die Hand geben. Der einzige Weg für einen Architekten in eine solche Show zu kommen ist, ein Buch über Rückengymnastik am Arbeitsplatz zu schreiben und zu hoffen, dass dein Verlag einen Sitz für dich bucht.

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Zuerst veröffentlicht auf Facebook am 18.1.2021