„Die Außenwände unserer Gebäude sind die Innenwände unserer Städte“. Wenn wir diesen Satz bei der Arbeit beherzigen, wird so manches klar: Im Stadtgrundriss sind die Straßen die Gänge, die Plätze sind die Zimmer. Sie müssen räumlich gefasst werden, sonst bleiben sie nur Restflächen, die nicht plastisch wahrnehmbar sind. Unsere Stadt funktioniert wie ein Grundriss ohne Decke. Und wie ein Haus nur mit Gängen keinen Sinn ergibt, so ist auch eine Stadt nur mit Straßen sinnlos. Jedes Dorf braucht einen kleinen Platz: eine Linde, einen Brunnen, ein Bänklein, ein Wirtshaus, eine Kapelle.

Eine gute Stadt funktioniert wie ein Bühnenbild für ein Schauspiel, das unter freiem Himmel aufgeführt wird. Es braucht Treppen, Emporen, Türme und Portale, sonst baut sich keine räumliche Spannung auf. Haben Sie die ARD-Serie Charité gesehen? Jede Folge ist das Treppenhaus im Bild. Dort steigen die Figuren der Serie auf und ab. Es gibt nämlich wenig mit dem ein Regisseur besser Spannung und Tempo aufbauen kann, als mit einer Treppe. Schinkel war vor seinem Durchbruch als Architekt Bühnenmaler. Dort hat er gelernt, wie Kulisse zur Dramaturgie wird. Er hat es an die nächsten Generationen weitergegeben. Dann kam eine Generation auf, für die das Wort „Kulisse“ eine negative Bedeutung bekam. „Potemkinsche Dörfer“ und ähnliche Kampfbegriffe machten die Runde. Wer ins Kino ging, konnte an den Filmen der Zeit noch sehen, wie Bühnenbild funktioniert, denn es wurde unter freiem Himmel gedreht.

Eine der schrecklichsten Erfindungen des 20. Jahrhunderts, jenem Jahrhundert so reich an schrecklichen Erfindungen, ist die Zeilenbauweise. Sie fußt auf der Idee, man könne Häuser mit der Schulter oder dem Rücken zur Straße aufstellen. Vorher war es Sitte, dass jedes Gebäude mit dem Gesicht zur Straße stand. So wie es am Tisch unfein ist, der Dame nebenan die kalte Schulter zu zeigen oder mit dem Rücken zum Gegenüber zu sitzen, war es unfein, ein Gebäude mit dem Rücken zur Straße zu bauen. Wer die Plätze unserer Stadt als Zimmer interpretiert, kann darauf hoffen, dass sich ein kleiner Knigge einstellt. Das spüren die Menschen intuitiv, denn in Orten ohne städtische Raumqualität haben wir besonders viele Menschen mit Jogginghose herumlaufen. Sie denken sich: „Wenn die Stadt kein Benimm hat, warum sollte ich es haben?“. Wenn man den Odeonsplatz als die gute Stube Münchens interpretiert, wird klar, warum Läden dort nicht mit blinkender Leuchtreklame auf dem Kopf rumsitzen sollten.

Heute hat jede Reihenhauszeile den Rücken zur Straße. Ich nenne diese Ansichten TKKG-Fassade, denn sie bestehen aus Treppe, Küche, Klo und Gitter. In den Fachwerkhäusern des Mittelalters war es nicht üblich, ein Toilettenfenster zur Straße zu setzen. Und die Menschen der Zeit waren diesbezüglich sicher nicht zimperlich. Es war unsinnig, denn erstens war Glas teuer und zweitens war in einer Gesellschaft ohne Fernseher, die Straße der Ort, wo sich etwas rührte. Von der Straße bekam man Neuigkeiten und gute Kaufangebote. Man hielt sich vorne auf. Die Küche, die Latrine, die Speisekammer das war nach hinten raus. Am Goethe-Haus in Weimar kann man das sehr schön sehen.

Wenn wir in einem Hollywood-Film laut Plot ein attraktives Wohnhaus gezeigt bekommen, hat dieses immer Wohnzimmer, Esszimmer und Schlafzimmer nach vorne raus, hinten liegen die Küche, die Waschküche und die „restrooms“. Ich habe einen Sammelband „American Dreamhomes“ zu Hause. Dieses Buch habe ich als Kind von meinem Vater stibitzt und stundenlang geblättert. Was ich daraus gelernt habe? Kein Gebäude darin hat Speiß, Toilette oder Bad nach vorne raus. Ein Haus braucht nämlich ein sehr charmantes Äußeres, dass es Toilettenfenster zur Straße hin verträgt. Die viktorianischen Reihenhäuser, die man eigentlich überall im angelsächsischen Raum findet, haben neben dem Eingang immer ein „bay window“ in dem sich ein Aufenthaltsraum befindet. Das macht die Häuser freundlicher.

Die Fassade ist nämlich nicht irgendetwas mit „Potemkinsche Dörfer“, sie ist die Bühnenkulisse für das Drama unserer Gesellschaft. Es braucht Verständnis und Willen das umzusetzen. Denken wir an die „Skene“ des griechischen Theaters wo das Bühnenbild eine Fassade war und die Fassade ein Bühnenbild. Denken wir an Palladios „Teatro Olimpico“ und wie dort Kulisse zu Architektur wird und anders herum. Das hat nichts mit „Oberflächlichkeit“ und „Staffage“ zu tun. Es ist kein Zufall, dass in Italien – dem Land der Oper, Projekte wie die Spanische Treppe oder der Markusplatz entstanden sind. Hätten die Dogen Venedigs und die Kardinäle Roms nicht gewusst, was ein Theater ist, kein Architekt der Welt hätte sie überreden können, diese Plätze anzulegen.

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Zuerst veröffentlicht auf Facebook am 31.1.2021