Lebt ein Paar in einer Dreizimmerwohnung, hat diese etwa 80 Quadratmeter Grundfläche. Bei Geschoßhöhe 3 Meter sind das 240 Kubikmeter. Mit Kellerabteil und Anteil Treppenhaus kommen wir vielleicht auf 260. Ein zeitgenössisches Einfamilienhaus hat hingegen ein Volumen von über 1’000 Kubikmetern. Mit Garage und Keller landen wir oft bei 1’200. Ich habe meine eigenen Entwürfe durchgesehen: Es war nur ein Einfamilienhaus dabei unter 1’000. Im Vergleich zur Dreizimmerwohnung reden wir also vom Volumen-Verhältnis 1:4.
Wenn wir 2’200 dieser Einfamilienhäuser nehmen, erreichen wir bereits ein umbautes Volumen größer als die Cheopspyramide (mit 2,6 Millionen Kubikmetern). Gehen wir aber davon aus, dass in einem Einfamilienhaus eigentlich nicht mehr als zwei Erwachsene wohnen, leben in besagtem Bauvolumen 4’400 Einwohner. Sprechen wir noch zwei Kinder hinzu, erreichen wir gerade die Einwohnerzahl einer kleinen Marktgemeinde. Das ist nicht wirklich viel.
Hinzu kommt, dass sich die Einwohnerstruktur der Häuser stark wandelt: Laut Statistischem Bundesamt lebt ein Drittel aller über 65-jährigen allein, bei Frauen sind es gar 45%.* Da ist bei manchen das Haus noch nicht abbezahlt. Verstehen sie mich richtig, ich freue mich über jeden Kunden, der von mir ein Einfamilienhaus wünscht. Jeder soll nach seiner Façon selig werden. Aber zum Seligwerden muss man wissen, worauf man sich einlässt.
Wie sieht die globale Sicht auf die Dinge aus? Wir leben auf einem Planeten mit rasant wachsender Bevölkerung, die sich obendrein verstädtert. Es werden also immer weniger Menschen auf dem Land leben, wo Einfamilienhäuser günstig sind. Prognosen sagen, 2050 werden zwei Drittel der Menschheit in Städten leben.** Ich will mir nicht vorstellen, dass diese Menschen alle in stumpfe Wohnsilos einziehen. Es wird also die nächsten 80 Jahre nicht darum gehen, den Wolkenkratzerekord in Dubai einzustellen. Die wichtigste Aufgabe der Architektur in unseren Tagen wird darin bestehen, das Leben in einer Etagenwohnung möglichst attraktiv zu machen. Das gilt für die Wohnung selbst, mindestens gleich wichtig ist aber die Ausarbeitung des urbanen Umfeldes. Urbanes Umfeld klingt akademisch. Was ist das? Wenn ich eine Drogerie, einen Bäcker, einen Metzger, einen Supermarkt, einen Allgemeinarzt und einen Blumenladen erreiche, ohne einmal den Zündschlüssel zu drehen. Urbanes Umfeld ist, wenn ich zur Darmspiegelung ohne Führerschein komme. Was die letzten 70 Jahre entstanden ist, war funktionsgetrennte und motorisierte Besiedlung. Also eher das Gegenteil.
Nach dem Krieg haben sich unser Musikgeschmack, unsere Mode und unsere Essgewohnheiten amerikanisiert. Auch das Verhältnis zur Ressource Boden hat sich verändert. In vielen Gemeinden wurden beste Ackerböden aufgegeben, um Platz für Neubausiedlungen zu schaffen. Auch unsere Landschaftsplanung hat sich amerikanisiert – einzig mit dem Unterschied, dass Deutschland sieben mal dichter besiedelt ist als die USA. Selbst dicht bewohnte Bundesstaaten wie Florida oder New York State liegen weit unter den deutschen Einwohnerquotienten. Wir dürfen also die Frage stellen: Wie lange wird es unser Land noch hergeben, 500 Kubikmeter Neubau pro Erwachsener pro Generation bereitzuhalten?
Wir müssen zunächst die Fehler des Nachkriegswohnungsbaus in Ost- und Westdeutschland evaluieren und verbessern. Aus hunderten Bauherrengesprächen konnte ich bislang entnehmen, dass die Geschoßwohnungen der Nachkriegszeit einen sehr schlechten Ruf haben: Laubengänge, Plattenfassaden, Scheibenbauten, stupide Repetitionseinheiten, dunkle Innengänge, Klofenster zur Straße, ungegliederte Baumassen, dunkle Treppenhäuser, gestauchte Fensterformate, Rollos halb unten, knausrige Geschoßhöhen, niedrige Decken, Kunstlichtbäder. Das sind die Grauen der Nachkriegszeit. Auf der anderen Seite haben wir Altbauwohnungen in Großstädten, die sehr beliebt sind. Wenn Makler sie inserieren, wird die Annonce meist nach 20 Minuten wieder aus dem Netz genommen, da bereits 50 Bewerbungen eingetroffen sind. Suchen sie mal „Altbau in Haidhausen“. Wir müssen lernen, was diese Stadtteile so attraktiv macht und es adaptieren. Es geht nicht um Neuartigkeit oder Originalität. Neuartigkeit war eine Kategorie der 1920er Jahre, als niemand ahnen konnte, welche Opfer der Luftkrieg fordern würde. Es ist immer Wert, ein Experiment zu starten, denn Gebäude unterliegen einem evolutionären Prozess: Es gibt Typen die bleiben, andere verschwinden.

Links:

* https://www.destatis.de/…/Zahl…/2018/PD18_49_p002.html und https://www.destatis.de/…/2020/03/PD20_N014_122.html

** https://de.statista.com/…/anteil-der-bevoelkerung-in…/

Zuerst veröffentlicht auf Facebook am 06.02.2021