Für ein geschmeidiges Stadtviertel braucht es zwei Dinge: Ecken und Kurven. Die Ecken sorgen für Orientierung, die Kurven für den Schwung. Damit sind nicht wilde Schlangenlinien gemeint, sondern sanfte Bögen mit übermenschlichen Radien. 

Für das Selbstdarstellungsbedürfnis einer Stadt mag es schön sein, eine schnurgerade Magistrale zu haben. Diese ergeben aber nur Sinn, wenn sie auf etwas Bedeutsames zulaufen. Berühmtestes Beispiel sind wahrscheinlich die Elysischen Felder von Paris: Sie führen vom Louvre zum Triumphbogen, welcher erst nachträglich eingebaut wurde. Vielleicht, weil jemand dachte: „Hier fehlt etwas!“. In Moskau sind es die großen Magistralen wie die Twerskaja oder die Arbatskaja, die vom inneren Zirkel, dem Kreml, nach außen führen. Dort liegen als Ziel die Moskauer Kopfbahnhöfe: Kijewskaja, Beloruskaja, Kurskaja usw. Sie sind wiederum Ziele. Weil jemand dachte: „Hier fehlt etwas!“, hat Stalin seine Hochhäuser auf die Ringe um den Kreml bauen lassen. Daraus ergibt sich der Spinnennetzplan von Moskau. Der zweite Ring ist der Boulevard-Ring. Der dritte Ring ist der Gartenring oder wie eine urbane Legende besagt: der Abdruck von Stalins Kaffeetasse. Das kommt daher, dass unter dem Gartenring die Ringlinie kreist und sie hat die Farbe moccabraun. Das alles macht Moskau zu einer erschreckend übersichtlichen Metropole. Man findet in ihr ab Tag 2 ohne Stadtplan zurück ins Hotel – trotz unleserlicher Schilder und „Wässerchen“. Man wandert einfach im Sektor, wo man zu Abend saß, in eine Richtung, bis man auf die nächste Magistrale trifft. Diese haben meist Blickkontakt zum Kreml mit seinen Türmen. So weiß man gleich, wo stadteinwärts ist. Die andere Richtung führt zur braunen Ringbahn, die man nicht verfehlen kann. Das alles ist praktisch, wenn man nur nicht wüsste, mit welcher rohen Gewalt es geschaffen wurde. Wir sehen also die Nähe von Magistralen und Machtgelüsten. Apropos: In München läuft die Achse von der Feldherrenhalle zum Siegestor und heißt Ludwigstraße.

Wir wollen uns aber nicht mit der autoritären Stadtplanung beschäftigen, sondern mit den Stadtvierteln, die wir lieben. Der Mensch mag es nämlich nicht, schnurgerade zu laufen. Auch im nüchternen Stadium hat er einen leichten Wellengang. Deswegen empfinden wir es als Zumutung, auf einem geraden Strich laufen zu müssen. Das aber verlangen Achsen von uns. Als Präfekt Haussmann die schnurgeraden Boulevards in den Grundriss von Paris hacken ließ, war er wahrscheinlich der meistgehasste Mann der Stadt. Er begründete die gerade Straße durch die Vernunft, denn die Gerade ist die kürzeste Verbindung zweier Punkte. Bis heute aber werden die Hausmannschen Maßnahmen von Freigeistern als Maßregelung und Obrigkeit empfunden, weil sie uns zwingen, gerade zu laufen: Herr und Knecht. Das gilt nicht nur für autoritäre Systeme sondern auch für andere westliche Hauptstädte: In Washington wurden die Magistralen von George Washington höchstpersönlich geschlagen, in Brasilia von Stadtplaner Lucio Costa. Man empfindet die Promenade dieser Strecken als unangenehm lang, obwohl sie viel kürzer sind als kurvige. Das liegt daran, dass geschwungene Straßen alle zwanzig Schritt die Perspektive wechseln und neue Blicke freigeben, die zuvor verdeckt waren.

Eine Straße mit leichter Kurve macht sich spannend, da man ihr Ende nicht sieht. Das Motiv dreht sich mit der Bewegung und gibt den Blick erst nach und nach frei. Gebäudeecken treten hervor und verschwinden wieder. Bei einer strengen Achse richtet sich der Blick von Beginn an auf ein Ziel. Selbst gerasterte Stadtgrundrisse sollten darum nicht streng rechtwinklig sein. Die Straßen haben leichte Knicke und Kurven. 

Schauen wir auf meine Studienstadt Augsburg. Besuchern empfehle ich die Promenade von Moritzplatz zum Rathausplatz. Am besten beide Wege abschreiten: Das sind fünf Minuten Stadtbaukunst auf Weltniveau. Die Laufwege folgen dem Schwung einer Murmel. Die Häuser sind die Leitplanken, die den Besucher auf sein Ziel führen: den Augustusbrunnen, den Perlachturm und natürlich das weltberühmte Rathaus. Das nenne ich Schwung und Abwechslung! Wer auf das Satellitenbild blickt, erkennt, dass er eben die Kontur eines Walfisches abgelaufen ist: Kopf mit Auge, Bauch mit Därmen.

Das ist der letzte große Wal. Er bricht die Blicke, er mildert die Wege, er speit die Bürger vor ihr Rathaus. Denn wenn das Rathaus nicht zum Bürger kommt, so kommt der Bürger zum Rathaus. Für eine lebendige Stadtstruktur braucht es diese zwei Komponenten: Kurven und Ecken. Sie passen zusammen wie Glocke und Hammer.

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Zuerst veröffentlicht auf Facebook am 07.03.2021